Klaus Walter Coaching und Supervision

Leseproben Wahrheiten und andere Irrtümer
Vorwort Vor einigen Jahren haben meine Frau und ich uns ein kleines Haus mit einem Garten gekauft, dessen Grundstück an einen Spielplatz grenzt. Es ist für uns eine Freude an schönen Tagen das fröhliche Lachen der Kinder und auch das Geschnatter der Erwachsenen zu hören, die Kinder über den Platz huschen, die Rutsche hinabrutschen und die Kletterwand hinaufzuklettern zu sehen. Manchmal wird das fröhliche Treiben aber unterbrochen, durch das Weinen eines Kindes, dass es zu toll getrieben hat und dann nach Vater oder Mutter ruft, damit die Tränen getrocknet werden. Und ganz selten stört auch einmal ohrenbetäubendes Kreischen, wenn zwei Kleine aneinandergeraten sind. Einmal hatte einer der Winzlinge ein Eis dabei so eine zuckerüberlastete Tüte, wie sie in der Werbung angeboten wird. Er hatte mit seinem Naschwerk wohl den Neid eines etwa gleichaltrigen Burschen heraufbeschworen, der es ihm streitig machen wollte. Es kam zu einer Rangelei. Für einen kurzen Moment hielten Beide ein Stück der Eistüte fest. Der eine oben, der andere unten. Dann kam es, wie es kommen musste: Das Eis landete im Dreck und war für Beide nicht mehr zu gebrauchen. Das Kreischen wandelte sich in ein zweistimmiges Heulen. Wenn ich mich an diese Szene erinnere denke ich, sie ist lehrreich. Sind wir Erwachsene nicht oft genauso, wie diese beiden Knaben. Da geht es uns um irgendetwas scheinbar Bedeutendes, wir sind nicht geneigt, von unserer Meinung abzurücken und schnell kochen die Gefühle hoch. Gut, es geht dabei selten um eine Tüte Eis. Das bekämen wir vielleicht noch irgendwie geregelt. Aber eine Lösung finden wir bei unseren Problemen genauso wenig, wenn wir erst einmal genügend in Rage geraten sind. Das Ergebnis sieht dann im Prinzip ähnlich aus und unsere Beziehung liegt im Dreck. Es bleibt nämlich für niemanden etwas. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass sich die meisten Menschen gar nicht streiten, sondern in Harmonie leben wollen. Lasst es uns doch einfach ein bisschen besser machen. „All we are saying ist give peace a chance!” John Lennon …. S. 12 Wir werden also wohl oder übel damit klarkommen müssen, dass es in jeder Form von Beziehung diese Augenblicke immer wieder geben wird, in denen es nicht gelingt, Interessenkonflikte diplomatisch beizulegen und ein handfester Streit frustrierend und sogar mit kleinerem oder auch größerem Schaden endet. Das ist aber kein Grund, das Streben aufzugeben, unsere Welt und unsere Beziehungen einschätzbarer, friedfertiger und harmonischer zu gestalten. Stabile Partnerschaften finden für Streits ja auch ihren Ausgleich zu einer anderen Zeit oder erkennen auf anderem Wege beziehungsweise später eine Lösung oder einen Kompromiss. In ihnen hat sich vielleicht sogar eine gewissen Gelassenheit gegenüber gelegentlichem Streit entwickelt. Dennoch werden wir in unserem Leben auch hin und wieder Beziehungen beenden müssen, wenn der Schaden zu groß geworden ist, weil chronische Konflikte soweit gereift sind, dass eine Aufnahme von Friedensverhandlungen und eine Wiederannäherung zunächst einmal unmöglich oder „zu teuer“ erscheint, die Zuneigung füreinander nachhaltig zerstört ist. Im Grunde ist die Trennung dann ein guter Weg. Sie macht den Weg frei, für einen Neuanfang und die Chance, es an anderer Stelle oder zu einer anderen Zeit besser hinzubekommen. Aber muss es soweit kommen? Bevor dieser Zustand erreicht ist, sehe ich für die meisten Beziehungen, die aus Zuneigung begonnen wurden, die Chance, zu dieser Zuneigung wieder zurück zu finden, vielleicht sogar mit einer besseren Qualität und Intensität. Ich verspreche nicht, dass es dafür die einfache oder schnelle Lösung nach einer Art „Backrezept“ gibt. Gut, manchmal steht dem Frieden nur ein kleiner, aber wirkungsvoller Irrtum im Wege, der sich ausräumen lässt. Aber das ist nicht der überwiegende Anteil. Meist sind die Irrtümer größer und zahlreicher. Ich verspreche darum stattdessen viel Arbeit an deinem Denken und Verhalten in Beziehungen - insbesondere aber an deiner eigenen Haltung. Es kann eine Herausforderung sein, bei deren Bewältigung als Ergebnis die Entwicklung oder Veränderung deiner Lebenseinstellung stehen kann und das muss ja auch nicht schlecht sein. Ich meine den Begriff „Arbeit“ deshalb aber wortgenau und manchmal sogar schweißtreibend. Ich bin kein sehr ausgeprägter Marxist, aber ich denke, dass jeder anerkannte Irrtum, jeder ehrlich ausgetragene und erfolgreich bewältigte Widerspruch, ein überwundener Konflikt, eine erzielte win-win-Erfahrung zu einem Wachstum der Beziehung, deiner Beziehungsfähigkeit und deiner Persönlichkeit führen kann. Und damit hat sich das Mühen dann schon gelohnt. Die schwierigste Hürde, die es zu überwinden gilt, wartet dabei schon ganz am Anfang dieser Arbeit auf dich. Es ist ein wirklich gewaltiger Sprung der da ansteht. Es ist nämlich unerlässlich zu akzeptieren, dass echte Lösungen nicht über die Regelung der Schuldfrage herbeizuführen sind. Wir lassen uns viel zu gerne zu dem Versuch hinreißen, den anderen als Bösewicht wahrzunehmen. Der Sprung ist grade deshalb so gewaltig, weil der Motor vieler Konflikte ausgerechnet in dem Versuch zu finden ist, den jeweils anderen für das Problem verantwortlich zu machen. Dies mag ja hin und wieder zutreffen und sogar Erfolg haben, aber das Schuldverteilungskonzept kann niemals dauerhaft eine Beziehung regeln. Es scheitert zu 99,999% (Bei der letzten Stelle hinter dem Komma kann ich mich irren). Stell dir nur einmal vor, du wärst derjenige, der hier Schuld eingestehen soll. … S. 19 Ich habe den Wunsch, dass dich mein Buch zu dem einen oder anderen Schritt auf dem Weg zu einer friedfertigen, wohlwollenden Grundhaltung und zu einer wacheren und bewussteren Art zu leben anregt. Es ist natürlich unmöglich, solch ein Anliegen in einen einfachen Ratgeber, in ein Manual und schon gar nicht in ein „Backrezept“ zu packen, wie ich schon einmal betonte. Mein Buch stellt darum eine ernsthafte Herausforderung dar. Es ist kein Buch, dass man sich an einem Wochenende zu Gemüte führen kann, um dann in der folgenden Woche besser zu funktionieren. Wenn du diesen Versuch machst, wenn du das leicht erreichbare Ergebnis anstrebst, wirst du es schnell wieder aus der Hand legen, niemals wieder anfassen und für wertlos ansehen. Wenn du dich aber der Herausforderung stellen möchtest, hüte dich vor der Überforderung. Ich empfehle dir darum, dich immer nur einem Kapitel oder Thema zu stellen. Nimm dir Zeit, die Inhalte auf die wirken zu lassen, für dich verfügbar zu machen und nicht nur das Wissen anzueignen. Sich etwas verfügbar zu machen heißt nämlich, sich darauf einzulassen, es zu erproben und zu üben. Prüfe am besten, welche Inhalte jetzt gerade zu dir passen oder welche du für dich passend machen möchtest. Lass die anderen Dinge ruhen, vielleicht für einen späteren Zeitpunkt. Es ist auch ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, wenn du nicht alles annehmen möchtest, was ich hier niedergeschrieben haben, sondern du nur etwas für dich in diesem Moment Geeignetes davon auswählst. Ich wünsche dir, dass alles, was du wählst, für dich zu einer wertvollen Bereicherung wird. Ich wünsch dir, dass es dir die Chance eröffnet, dein Leben harmonischeres und erfüllter zu machen, indem du für dich und für deine Nächsten mehr Aufmerksamkeit und Liebe aufbringen kannst und in dem dir manche bisher so scheinbar wichtigen Dinge viel unwichtiger werden. Ich wünsche dir viel Erfolg! …. S.25 ERGO: Du hast bestimmt schon gemerkt, dass ich dich dazu bewegen möchte, das Denken in Kategorien von Recht und Unrecht, von Schuld und Sühne aufzugeben. Eines ist nämlich gewiss: Jemandem Schuld am Dilemma zu geben ist eine tierische Falle mit einem riesigen Maul. Ihm zu entkommen erscheint fast aussichtslos, wenn man diesem ständig lauernden Moby Dick begegnet. Eben noch glaubt man, dass man die Vorwurfshaltung bei einem Konflikt aufgegeben hat und schon ist man selbst Opfer einer Anklage. Die Versuchung ist groß, dann zum Kapitän Ahab zu mutieren und trotz aller guter Absicht mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Es liegt dann nahe, dem Anderen seine Suche nach meiner angeblichen Schuld vorzuwerfen. Aber in dem Moment, indem ich dem anderen vorwerfe, dass er oder sie gerade wieder nach einem Schuldigen sucht, schnappt das Maul zu Tatsächlich hat Moby den Kapitän Ahab aber nicht gefressen. Der hatte sich nur ganz fürchterlich in der Fangleine verheddert und war mit dem Wal untergegangen.. Was ist an meiner Reaktion prinzipiell denn so anders? Eigentlich nichts, denn ich nutze doch nur meine Kenntnis über das Thema Schuld für meinen Angriff aus. So geht das also nicht und darum beschreibe ich im Kapitel „Wo bitte geht´s zur Metaebene“, wie man daraus entkommen kann. Natürlich gelingt der Verzicht auf Schuldzuweisungen niemandem perfekt, aber wir sollten uns mindestens bemühen, anklagendes Verhalten zumindest in Frage zu stellen und zu verringern. Ich führe dafür noch ein weiteres Argument an. Mach dir eines bewusst: es gibt in einer Beziehung bei einem Streit keinen Gewinner als Folge eines erlangten Sieges (außer beim Skip-Bo oder einem anderen Kartenspiel), denn der Sieg des Einen bedeutet immer, dass dem Anderen eine Niederlage zugefügt wird. Kein Verlierer liebt einen Sieger, sondern lehnt ihn ab, insbesondere wenn es um bedeutende Dinge des Lebens geht und nicht nur um ein Spiel. Verlierer fürchten einen Sieger sogar, wenn sie Schaden davongetragen haben. Es gibt in einer Beziehung darum keinen Gewinn durch einen Schuldspruch, wohl aber durch Selbsterkenntnis, einen Fehler gemacht zu haben oder selbst gewonnene Einsicht, anders und besser handeln zu können. Selbsterkenntnis macht den Weg frei, für den Respekt vor der Meinung des Anderen, für eine wahrhaftige Entschuldigung, wenn sie angebracht ist und für eine schöne Verzeihung des Anderen, die die Beziehung tiefer werden lässt. Selbsterkenntnis wertet den Erkennenden auf und heilt die Wunden aller Beteiligten. Ein erzwungenes Schuldeingeständnis bedeutet dagegen, den Anderen zu unterdrücken und zu schwächen und ist darum ein schädlicher Ausgang eines Streits. Er ist selbst dann fatal, wenn der Andere sich tatsächlich ins Unrecht gesetzt hat. ….S. 66 Die Gelehrten und der Elefant Es waren einmal fünf weise Gelehrte. Sie alle waren blind. Diese Gelehrten wurden vom König auf eine Reise geschickt und sollten herausfinden, was ein Elefant ist. Und so machten sich die Blinden auf die Reise nach Indien. Dort wurden sie von Helfern zu einem Elefanten geführt. Die fünf Gelehrten standen nun um das Tier herum und versuchten, sich durch Ertasten ein Bild von dem Elefanten zu machen. Als sie zurück zum König kamen, sollten sie ihm nun über den Elefanten berichten. Der erste Weise hatte am Kopf des Tieres gestanden und den Rüssel betastet. Er sprach: „Ein Elefant ist wie ein langer Arm.“ Der zweite Gelehrte hatte das Ohr des Elefanten ertastet und sprach: „Nein, ein Elefant ist vielmehr wie ein großer Fächer.“ Der dritte Gelehrte sprach: „Aber nein, ein Elefant ist wie eine dicke Säule.“ Er hatte ein Bein des Elefanten berührt. Der vierte Weise sagte: „Also ich finde, ein Elefant ist wie eine kleine Strippe mit ein paar Haaren am Ende“, denn er hatte nur den Schwanz des Elefanten ertastet. Und der fünfte Weise berichtete seinem König: Also ich sage, ein Elefant ist wie eine riesige Masse, mit Rundungen und ein paar Borsten darauf.“ Dieser Gelehrte hatte den Rumpf des Tieres berührt. Nach diesen widersprüchlichen Äußerungen fürchteten die Gelehrten den Zorn des Königs, konnten sie sich doch nicht darauf einigen, was ein Elefant wirklich ist. Doch der König lächelte weise: „Ich danke Euch, denn ich weiß nun, was ein Elefant ist: Ein Elefant ist ein Tier mit einem Rüssel, der wie ein langer Arm ist, mit Ohren, die wie Fächer sind, mit Beinen, die wie starke Säulen sind, mit einem Schwanz, der einer kleinen Strippe mit ein paar Haaren daran gleicht und mit einem Rumpf, der wie eine große Masse mit Rundungen und ein paar Borsten ist.“ Die Gelehrten senkten beschämt ihren Kopf, nachdem sie erkannten, dass jeder von ihnen nur einen Teil des Elefanten ertastet und sie sich zu schnell damit zufriedengegeben hatte. Auch in dieser Geschichte wird verdeutlicht, dass wahrgenommene Ausschnitte aus der Realität zu unterschiedlichen „Wirklichkeiten“ führen. Dabei müssen wir doch aber davon ausgehen, dass unsere Wahrnehmung begrenzt ist und jeder Mensch immer nur einen Ausschnitt aus der Realität erfasst. Man kann sich gut vorstellen, wie sich diese fünf blinden Gelehrten in einem Streit hätten hochschaukeln können, hätten sie nicht diesen klugen König gehabt. Man könnte meinen, dass sie durch seine Worte im entscheidenden Moment erkannt haben, dass sie nicht nur im Mangel an Sehfähigkeit „blind“ waren, sondern auch in ihrer Bereitschaft, die „Wirklichkeit“ der anderen als eine wichtige Information für die gemeinsame Wirklichkeit anzunehmen. Wenn das der Fall sein sollte, wären sie nicht nur Gelehrte geblieben, sondern endlich auch Weise geworden.Vielleicht sollten auch wir versuchen, in diesem Sinne öfter Weise zu sein. … S. 168 Eine Zukunftsaufgabe: Rückkehr in die Gegenwart Ich lese meine Texte gerne mehrmals durch, um sie noch zu verbessern, noch etwas einzufügen oder auch zu kürzen. Beim letzten Kapitel bemerkte ich dabei ein bedrücktes Gefühl, dass eigentlich unpassend schien. Es äußerte sich nicht aufdringlich, sondern leise. Aber so etwas übergehe ich nicht; ich forsche nach. Dabei stieß ich auf ein gesellschaftliches Phänomen, das mich schon eine Weile nachdenklich macht. Es ist dieser zunehmende, allgegenwärtige Verlust der Sinnlichkeit. Einfach nur ganz im Augenblick zu sein, ohne etwas vorzuhaben, ohne irgendetwas gedanklich durchzuspielen, den Blick verträumt in die Wolken richten, ohne unter irgendeinem Sog oder Druck zu stehen, einfach nur mit allen Sinnen spüren oder ganz wach hinhören, ohne irgendetwas zu konsumieren scheint für viele Menschen in unserem Kulturkreis immer weniger möglich zu sein. Wir, unsere Konsumgesellschaft, haben die Bedingungen dafür selbst geschaffen, unter denen wir heutzutage leben und immer mehr leiden. Vor sehr, sehr langer Zeit führten wir einmal das Leben des Neandertalers, waren mit knappem Pelz bekleidet und hockten vor unserer Höhle, lebten in überschaubaren Gruppen. Diese kleinen Gemeinschaften haben wir gegen das Dasein in überfüllten Großstädten eingetauscht. Unser überschaubarer sozialer Raum ist verloren gegangen. Die sozialen Rollen zur Zeit des Neandertalers waren ja schlicht und gleichzeitig war bei jeder Rolle erkennbar, wie wertvoll und wichtig diese für die Gemeinschaft war. Die Sinne waren für die Aufrechterhaltung des sozialen Lebens und für die Aufgaben der Gemeinschaft geschärft. Gerüche verrieten, ob Paarungen möglich waren, ob ein gefährliches Tier in der Nähe war, ob Pilze genießbar waren. Die Pflanzen und ihre Wirkung waren vertraut, genauso wie die Verhaltensweisen der Tiere, die gejagt wurden. Ich könnte noch viele weitere Dinge beschreiben, die alle verdeutlichen, wie sehr das Leben damals von wachen Sinnen bestimmt war. Niemand möchte wohl noch unter Steinzeitbedingungen leben. Über die Jahrtausende ist das Leben für uns Menschen durch medizinische Entwicklung und bessere Ernährung körperlich gesünder geworden, aber es hat sich immer komplizierter gestaltet. Das war über sehr lange Zeit ein langsamer Prozess, doch in den letzten 150 Jahren, mit der industriellen Revolution, mit Fernsehen, Kino, Fernreisen und zuletzt mit Internet und sozialen Medien explodierte die Menge an Informationen und die Berieselung unserer Sinne. Mit dem globalen Warenverkehr und dem weltweiten Handel gingen uns die Erdbeeren zu keiner Jahreszeit mehr aus und das neueste Samsung Handy war überall zu haben. Heute werden wir durch ständig verfügbare Medien getriggert (im Sinne von angeregt und gleichzeitig verführt), werden ausgehorcht von Algorithmen, die uns zu den Reizen führen, die unsere Sinne am besten stimulieren und den nächsten individuellen Glückshormonkick vermitteln. Wir sind eine konsumierende, süchtige Gesellschaft geworden. Unsere Fähigkeit zur Informationsverarbeitung hat sich zwar ebenfalls entwickelt, aber sie läuft dem immer größeren Ansturm an Informationen und den damit verbundenen Manipulationen dennoch meilenweit und hilflos hinterher. Wir Menschen verlieren immer mehr an Fähigkeit, uns den sinnlichen Freuden hinzugeben, die zum Beispiel die Natur oder eine reale, wache Begegnung (im Gegensatz zur oberflächlichen oder virtuellen Begegnung) mit anderen Menschen für uns bereit hat. Wir erleben einen chronischen Notstand durch Überforderung und greifen darum zu untauglichen Vereinfachungen der Realitätswahrnehmung als Rettung. Werbung, Populismus, Fakenews nutzen das aus, haben leichtes Spiel mit uns. Wir sind eine leichte Beute für politische Rattenfänger, die mit unseren Ängsten spielen und behaupten, dass sie die einfachen Lösungen hätten, die wir uns so sehnlich wünschen. Die Antworten aber, wie die Lösungen dann ganz real aussehen sollen, bleiben sie schuldig und das Einzige, was sie mit ihren Lügen bewirken, ist sozialer Unfrieden. … S. 319 Der Weg der Vergebung Wenden wir uns mit diesen Gedanken dem Weg der Vergebung zu. Vergebung darf dabei nicht missverstanden werden, weder als das Eingeständnis von Schwäche als auch das Gutheißen der Tat. Etwas Verletzendes annehmen bedeutet keinesfalls, es auch zu tolerieren. Unrecht bleibt Unrecht und verdient auch keine Akzeptanz. Etwas Verletzendes annehmen bedeutet auch nicht die Erlaubnis, dass die Verletzung wiederholt werden darf. Vielmehr bedeutet es für den Verletzten, zu akzeptieren, dass etwas bereits geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen ist, ohne dass man es vergisst. Vergebung beginnt darum mit dem Annehmen der unangenehmen, schmerzhaften Erlebnisse und der damit verbundenen Gefühle. Es ist für viele verletzte Menschen der schwerste Schritt und äußert sich zudem erneut äußerst schmerzhaft, denn es geht um nicht mehr oder weniger, als sich das Erlebte anzuschauen, sich der Erfahrung zu stellen. Es kann ein so schwerer Prozess sein, dass man dafür psychotherapeutische Unterstützung benötigt. Es ist aber wichtig, dass man sich erlaubt, Ohnmacht, Wut, Hass, Rachegefühle, Schmerz und Enttäuschung zu fühlen, dass man sich erlaubt, den Schmerz zu betrauern, den die Handlungen anderer verursacht haben. Aber wenn einem diese Akzeptanz gelingt, gewinnt man dadurch auch die Kraft, sich gegen neues Unrecht zur Wehr zu setzen und die Ohnmacht zu überwinden. Wenn du den Weg der Vergebung gehen möchtest, mach dir zuallererst bewusst, dass du für deine Verletzung keine Schuld hast. Es mag sein, dass du bei deinem Gegenüber etwas ausgelöst hast, dass du dich irgendwie ins Unrecht gesetzt hattest, aber auch das rechtfertigt niemals, dass du verletzt wurdest. Zeig auch dir selbst gegenüber Mitgefühl und vergib dir deine Unvollkommenheiten und deine Fehler. Man kann sich eingestehen, dass man selbst fehlbar ist, Fehler macht und Schaden anrichtet. Niemand ist von eigenen Schwächen frei. Aber mit dem Eingeständnis wird es möglich, sich nun auch in die Lage der Person versetzen, die dir Unrecht getan hat, und versuchen, ihre Beweggründe, Probleme und Grenzen zu verstehen. Vielleicht fällt dir jetzt schon auf, dass es bei der Vergebung weniger um den anderen als um die eigene Person geht.